Wer hat denn Boden in Lavendel ausgesucht? “Du”, sagte meine Mutter, gefolgt von “du bekommst keinen neuen Teppich.” Darum ging es mir nicht, ich hatte es nur vergessen, warum es Lavendel wurde und begriff, dass ich entwuchs. Die Bilder von russischen Dorflandschaften an den Wänden, die hatte ich mir nicht ausgesucht, aber das musste ich nicht bezweifeln. Sie hängen schon an meinen Wänden auf Fotos mit mir, noch rosa und rund und klein und auf der weißen Häkeldecke, die Sonne und ich lachen zusammen.
Irgendwann durfte ich neue Bilder aufhängen, Glitzerpostkarten von Pferden und Einhörnern und Pegasus. Das war die Zeit, in der ich lernte, dass ich nicht laufen kann wie der Wind, aber schnell genug war, um nicht rechtzeitig vor dem Garagentor stoppen zu können und mir den Arm brach. Mein Bruder weinte dann, ich musste ihn trösten. Monate später war er tapferer als ich, als er vom Apfelbaum fiel und ich sein Blut an den Händen hatte, er war nur weiß im Gesicht und rot auf dem Rücken und weinte nicht. Ich weinte und bekam zum ersten Mal keine Luft ohne schwimmen zu sein.
Der Spiegelschrank im Flur war für mich magisch, in die Wand eingelassen und dahinter nur Putzzeug. Aber der Schlüssel war golden und schnörkelig und immer wieder drehte ich ihn im Schloss um und wurde enttäuscht. Mein Zuhause damals – Abenteuer überall. Die magische Tür, die zu geschickt war für mich, egal, wie schnell ich sie öffnete. Die Rostflecken im Keller an der Wand. Vielleicht ein Mord, der hier mal passierte? Ich gründete eine Detektivbande mit Nachbarskindern. Keine Detektei, eine Detektivbande, denn wir waren wild, so wild wie meine Ideen. Nie kamen wir einer Sache auf die Schliche und von der Bande blieben dann nur mein Bruder und ich übrig. Was gut war, dann war noch mehr Platz im Garten. Für Ritterspiele mit Schwertern aus Holz und mit meinem war ich immer zornig und schonte es nicht, denn meine Eltern ließen “Lady Stephanie” eingravieren, dabei war ich eine Ritterin. An Geburtstagen war das Schlachtfeld nur noch für harmlose Kinderspiele da. Ich brauchte dabei dennoch selten nur bis zur Hälfte eines Nachmittags, um beleidigt zu weinen (heimlich, versteckt im Haus und wartend, dass mich jemand fand, aber wirklich nur, weil man mich auch finden wollte). Weinen, wenn ich an meinem Geburtstag nicht jedes Spiel gewann und meine Eltern mir beim Verlieren zusahen. Ich redete nie mit ihnen darüber, aber ich dachte, meine Eltern hielten mich für eine Versagerin. Zuhause war ein Abenteuer, ich weinte oft, wo andere es nicht taten. Und andersherum.
In diesem Garten steckten wilde Geschichten, aber auch Stachelbeeren, die nie süß wurden, egal, wie oft ich sie probierte. Und es wurde geharkt und gejätet und der traurigste Tag war immer der, wenn mein Vater loszog, um den Salat zu schützen und die Schnecken loszuwerden. Sowie der Vermieter den Kirschbaum vor meinem Fenster loswurde, meinen Gesprächspartner mit den Amseln im Kopf wenn ich aus dem Fenster starrte, statt meine Hausaufgaben zu machen. Das war fast der traurigste Tag. Davor kommt nur noch der, wo es hieß, wir Kinder seien respektlos und verwöhnt und ich lugte durch den Türspalt, sah und hörte, wie er tobte und alles zerriss und zerschmiss und zertrat, was er an Spielzeug von uns fand.
Aber mein Bruder und ich hatten unsere Ideen und ich hatte Bücher und die Apfelbäume, Birnenbäume, Pflaumenbäume. Stunden im Gras waren das, das Buch ausgelesen und in die Blätter gestarrt, mit dem Rauschen eingeschlafen. Geweckt von den Rufen zum Abendessen und dann Starren – ich könnte ja wieder Erde und Gras an meiner Kleidung haben. Als ich stattdessen häufig erkältet war, bekam ich eine Hängematte geschenkt (einfach so, was mich verwirrte, schließlich waren Geschenke was für Geburtstag, Weihnachten und gute Noten). Also Stunden wiegend, Buch, Blätter, Rauschen, Schlafen. Hätte ich damals über Glück nachgedacht, wären das wohl die Vokabeln gewesen. Obwohl da noch fehlen würde: Gewitter anschauen. Die Momente, wo ich im Türrahmen des Kellers saß, Blitz, Donner und Regen toben ließ, als wäre da endlich jemand, der mir die Worte sagte, die mir fehlten oder nur nicht gesagt wurden.
Unsere Haustür war die hässlichste der Welt und Schuld daran, dass ich mir bis heute gerne schöne Haustüren ansehe und mir die tollsten Leben dahinter vorstelle. Unsere Tür war aber immerhin auch Tür zu meinem ersten Liebesbrief, ich stand da, auf die Klinke gestützt und nahm ihn an. “Die Kette ist von meiner Mutter”, sagte er noch, ich schloss dir Tür dennoch – nämlich zum Denken – und öffnete sie mit Klarheit erneut. Ich gab Brief (gelesen) und Kette zurück. Das war die Tür zum ersten Streit, denn ich hätte ihm “Hoffnung gemacht”. Damals glaubte ich ihm das (und ich glaubte es noch manche Male danach, bis ich viel später herausfand, dass dafür häufig auch bloßes Atmen und eine Prise Verzweiflung reicht).
Betrat man durch die hässlichste Tür der Welt unser Haus, hatte man die Wahl: Die Treppen rechts hinauf, wo die Mutter meines Vaters immer versuchte Recht zu haben. Oder rechts die Treppen hinunter mit Rost wie Blut an den Wänden. Oder geradeaus in unsere Wohnung. Aber da waren wir schon, also oben und die Erinnerung daran, Erwachsene nicht zu begreifen: Die Mutter meines Vaters schimpfte meine Mutter aus, dass sie nicht anständig putzen könne und faul sei, während ich daneben stand. Meine Mutter (berufstätig, umsorgte zwei Kinder, organisierte zwei Haushalte) weinte in unserer Wohnung, aber nicht heimlich genug für mich. Ich ahnte, dass sie meinem Vater nichts davon sagen würde. Und wenn sie es täte, wollte ich nicht dabei sein, denn ich ahnte ebenfalls, dass er leugnen würde, was er nicht einmal bezeugen konnte. Manchmal stand ich dann vor der alten dünnen Frau von oben und begriff nicht, wieso sie meistens nett zu mir war. Und wieso sie Joghurt aß, aus dem sie vorher noch pelzige Flecken hob. Insgesamt habe ich das Gefühl, dass ich oben weniger verstand als bei uns und im Keller. Aber eigentlich verstand ich wohl damals nichts so gut wie stundenlang in der Hängematte zu liegen unter dem Obst an Blätterrauschen oder Gewitter toben zu lassen. Aber könnte mir ja zum Trost Geschichten von Menschen ausdenken, die sich das mit der Hängematte und den Gewittern als besondere Fähigkeit in ihren Lebenslauf schreiben, dafür den Job ihres Lebens bekommen und deswegen in dem Haus mit der schönsten Eingangstür der Welt wohnen.
“Schreibe über das Haus deiner Kindheit”, ist eine der Schreibanregungen in Leben, schreiben, atmen: Eine Einladung zum Schreiben von Doris Dörrie. Unter dem Hashtag #LebenSchreibenAtmen findet man bereits von anderen Texte zur Aktion, bei Sarah von Pinkfisch auch eine Linkliste zu anderen Beiträgen. Wenn man möchte, kann man aber nicht nur eine Schreibanregung umsetzen, sondern damit auch am Gewinnspiel des Diogenes Verlages teilnehmen, der Karten zur Lesung des Buches und natürlich das Buch selbst verlost.
2 Kommentare
Liebe Steffi, was für ein wunderbarer Text. Ich liebe, wie du schreibst.
“Sowie der Vermieter den Kirschbaum vor meinem Fenster loswurde, meinen Gesprächspartner mit den Amseln im Kopf wenn ich aus dem Fenster starrte, statt meine Hausaufgaben zu machen.” <3 <3 <3
Danke für das schöne Kompliment ♥♥♥